Mensch X Friedhof (Part I)

Der Türmer, der schaut zu mitten der Nacht
Hinab auf die Gräber in Lage;
Der Mond, der hat alles ins Helle gebracht:
Der Kirchhof, er liegt wie am Tage.
Da regt sich ein Grab und ein anderes dann:
Sie kommen hervor, ein Weib da, ein Mann,
in weißen und schleppenden Hemden.

Aus Johann Wolfgang von Goethes
Der Totentanz

Dass Menschen Friedhöfe lieben und verehren können, ist keine Utopie. Überall auf der Welt werden Reisen und Ausflüge unternommen, um nicht nur den Toten sondern auch den Begräbnisstätten nahe zu sein. Aktive Friedhöfe entfalten Wirtschaftlichkeit, denn im steten Rhythmus kommt jemand nach. Professionelle Abläufe und Betreuung sind dann gefragt. Andere Areale gelten als stillgelegt, verwunschen, unheimlich, mit Spuk und Geistern belegt. In etwas schrägen Fällen werden Friedhöfe zu regelrechten Magneten für Touristen, Pilger und Fotografen mit Jagdinstinkt. Auf dem beliebten Rumänischen Friedhof von Săpânţa beispielsweise, der mit Fröhlicher Friedhof übersetzt wird, sind in den Jahren über 800 kunstvoll gefertigte, blau gestrichene Kreuze zusammengekommen, die alle persönliche Inschriften tragen. Viele davon mit humorvollen oder sarkastischen Nachrufen. Vielleicht ist der Friedhof gerade deswegen so beliebt, weil er keinerlei Blatt vor den Mund nimmt.

Leben auf Friedhöfen

Die parkähnlichen Anlagen mit den liebevoll angelegten Grabstellen sind lebendiger als manche Menschen sich das eventuell vorstellen können. Friedhöfe sind Orte des Treffens, der Einkehr, der Arbeit, der Unterstützung, des Schweigens. Wer eine Pforte oder ein Tor zum Friedhof durchschreitet, begibt sich in eine andere Welt. Dort ist es übermäßig ruhig, Raum und Zeit sind weniger relevant, die Seele stellt auf Entspannung und Erholung um, Augen beobachten Entzückendes aus der Natur. Langsamkeit und Stille begünstigen ein intensives Erleben und einige nicht alltägliche Begegnungen. Wobei es auch die Alltäglichen gibt, die für das Gefühl der Heimat, der Zugehörigkeit und der Geborgenheit von Belang sind.

Nicht nur in Berlin, ich nehme an bundesweit, gibt es Menschen, die auf Friedhöfen leben und ihre Heimat auf ihnen gefunden haben. Der Dorotheenstädtische und der Jüdische Friedhof in Berlin sind beispielsweise bewohnt. Auf dem Südwestkirchhof in Stahnsdorf lebt der Verwalter Olaf Ihelfeldt, den ich schon im Vorbeifahren an seinem schimmernden Skoda mit den Initialen im Nummernschild erkenne. Im April 2017 bin ich selbst auf einen Friedhof gezogen und kann mir keinen interessanteren Ort in der Stadt zum Leben vorstellen. Gleichzeitig ist mein Büro hier, was das Ganze angenehm zentriert. Wenn ich Trubel und viele Menschen will, kann ich jederzeit die Welten wechseln. (Mika C. Nixdorf)

Aus meinem Friedhofstagebuch, Luisenkirchhof II: Ingrid, unsere Friedhofsoma, kommt fast jeden Tag. Manchmal bleibt sie bis zur Schließzeit und schenkt Torsten aus Freude über seine Nettigkeit frische Blumen. Gegen ihre Fragelust und den immerwährenden Redeschwall ist noch kein Kraut gewachsen. Man muss sie wohl nehmen wie sie ist. An einem lauen Sommerabend treffe ich Petra am Tor, sie kann schwer laufen und sieht etwas mitgenommen aus. Neben ihr steht ein Einkaufswagen mit tausend Tüten. Im Stillen erschließt sich mir, dass sie obdachlos ist. Wir reden ganz offen über verschiedene Dinge, eigentlich wollte ich gerade weg aber Petra hat meine Pläne verändert. Wir gehen das Stück zurück zum Haus und setzen uns auf die umrandende Mauer. Sie erzählt aus ihrem Leben, ich aus meinem. Später kommt noch Ingrid dazu, die es entgegen ihrer sonstigen Angewohnheit erst am Abend zu uns geschafft hat. Wie sie da sitzen, die beiden Damen, irgendwie süß. Ich klinke mich aus und mache Nudeln Bolognese. Dazu gibt es Rotwein und kalte Cola. Ingrid möchte lieber Saft und keinen Wein, ihr Herz wäre schließlich nicht mehr das Jüngste. Nüscht! Heute Wein, keine Widerrede. Ingrid lässt sich überreden und nippt zufrieden an ihrem Kelch. Schön angeschwipst sagen wir der Sonne auf Wiedersehen, bis morgen.

Nimmt man die warmen Monate als Durchschnittsmonate, ist der Tag versorgungsmäßig durchgetaktet. Früh am Morgen kommen die Eichhörnchen zum Nüsse holen vorbei. Fridolin, Ferdinand und Frederik. Alles Jungs, weil ich nicht weiß, woran ich das Geschlecht erkennen soll. Frederik fällt gleich auf, sein Fell ist satt Hellbraunorange, außerdem trägt er immer zwei Nüsse gleichzeitig davon. Fridolin ist der mit den kurzen Ohren, vermutlich noch ein junger Spund. Sein Fell ist dunkelbraun. Ferdinand ist der, der mit der Tür ins Haus fällt. Sobald geöffnet wird, ist entweder das Sofa, der Sessel oder der Holztisch sein angestammter Platz. Vorausgesetzt die Katze ist nicht da. Meggy findet die Eichhörnchen im Haus nicht so prickelnd, sie hält sie für revierfremde Konkurrenten und Schnorrer. Dabei möchte sie selbst ständig bedienstet werden. Was das angeht, haben wir ein gesundes Maß gefunden. Meggy ist Freigängerin und sorgt bisweilen noch selbst für ihre Nahrung. Zumindest in der Nacht, wenn ihr Jagdtrieb erwacht. Am Tage dann und wenn ich es sehe, müssen die Mäuse vor ihr gerettet und weit weg gesetzt werden. Am Abend ist das Restaurant für die dicken Igel geöffnet, die mit Hoffnung vorbeikommen und etwas Fleisch abstauben wollen, das eigentlich für Jimmy den Fuchs vorgesehen war. Der hat ständig Hunger. Und wenn er junge Füchse großziehen soll, so wie 2019, sind wir auf etwas zusätzliche Hilfe und Zubrot von außen angewiesen. Jimmys Frau war nach der Geburt der vier gemeinsamen Kinder zügig über alle Berge verschwunden. Alleine hätte der dünne Hering es nicht geschafft seine Familie zu ernähren.

An Montagen ist in der Regel mehr los auf dem Friedhof, weil dann die Gesellschaften und Dienstleister für die Beisetzung zusammenfinden. Es ist mittlerweile Gewohnheit, dass mein Haus Schnittstelle für alle möglichen Anliegen und Hilfsanfragen geworden ist. Während ich also im Friedhofsbuch nach einem bestimmten Namen plus Grabstelle suche und im Gedanken schon die Überleitung zur Verwaltung plane, weil längst nicht alle Namen verzeichnet sind, soll ich am besten noch Grabblumen zwischenlagern, den Weg zur Kapelle zeigen, die Urne entgegennehmen, den Trauerredner ins Haus lassen, damit er sich umziehen kann, mein Fahrzeug umparken, ans Telefon gehen, Post annehmen und eine Empfehlung darüber abgeben, wo denn ein guter Platz für eine Beisetzung sein könnte, inklusive der Begehung natürlich. Manchmal kommen noch stattliche große Särge, die man ganz zu Anfang bei mir abgeben wollte. Mit der Zeit haben die Bestatter mitbekommen, dass ich nicht die Verwaltung bin.

Mit den Schließzeiten ist es so, dass in den hellen Monaten immer länger geöffnet ist. Regelmäßig bis 20.00 Uhr, wobei die Tore selten auf die Minute geschlossen werden. Etwas Karenzzeit ist nötig, damit auch die letzten Besucher die Chance haben, rechtzeitig das Gelände zu verlassen. Klappt das nicht, stehen sie regelmäßig vor meiner Tür und erbitten Hilfe. Die Schließzeit geht in den kalten und dunklen Monaten runter auf 16.00 Uhr. Ab dann ist niemand mehr da. Außer Buckminster NEUE ZEIT, seine Gäste und alles Umliegende.

[Weitere Geschichten erzählen wir bei Kerzenschein auf der offenen Dachterrasse, am Lagerfeuer oder diagonal liegend im angetauten Gras. Historische Bilder sind Privataufnahmen aus den Jahren 1939 – 1970, sie zeigen Menschen in Verbindung mit dem Luisenkirchhof II sowie den Kirchhof selbst. Mit dem Glück des Tüchtigen ist es gelungen, alte Aufnahmen des ehrwürdigen Pfarrhauses ausfindig zu machen. Für die Präsentation der Bilder erhielt Buckminster NEUE ZEIT das erforderliche Einverständnis des Archivars. Das Recht auf Verwendung ist ohne vorherige Absprache mit uns nicht übertragbar.]

Die holden Wünsche blühen,

Und welken wieder herab,

Und blühen und welken wieder –

So geht es bis ans Grab.

Das weiß ich, und das vertrübet

Mir alle Lieb und Lust;

Mein Herz ist so klug und witzig,

Und verblutet in meiner Brust.

(Christian J. Heinrich Heine)

Feuer und Flamme

Verantwortung für ein Gebäude mit dieser Lage zu übernehmen, verlangt vollen Körpereinsatz, Erfindertum und kreatives Handeln. Wer dazu noch den Anspruch an eine museumsartige Ordnung hegt, zumindest in Teilbereichen des Hauses, braucht eigentlich 2 Uhren à 24 Stunden. Es gibt innen wie außen immer was zu tun. Neben der Grundordnung sind Lichtstimmungen und bestimmte Umgebungsfaktoren besonders wichtig. Ist man hochsensibel geboren, führen Abweichungen, Störungen oder negative Einflüsse (z.B. zu grelles oder kaltes Licht) zu Leistungs- und Produktivitätsverlust. Hier spielen bereits feinste Nuancen eine große Rolle. Auch die Kreativität kann nicht richtig entfaltet werden, wenn das Energiegefüge nicht passt. Ausbalancieren und das tägliche Überprüfen auf Wohlbefinden sind merkmalsbedingt zur Gewohnheit geworden. Eine erhöhte Sensitivität hat aber insoweit den Vorteil, dass Menschen, die mit diesem Persönlichkeitsmerkmal geboren sind, als eine Art Vorschaltrelais für Normalsensible funktionieren. Hochsensible betreten ein Gebäude oder einen Raum und lokalisieren mit seismographischer Genauigkeit diejenigen Faktoren, die den Energiefluss behindern.

Kraftvolle Lagerfeuer finden auf dem Luisenkirchhof II regelmäßig statt. Sie erinnern uns Menschen an die Einfachheit des Seins. Auch an Unbeschwertheit und Lebenslust. In der Gegenwart von Feuer können wir Last, Bürde und manchmal auch Krankheit ablassen. Der Geist des Ortes und die in ihm schwingenden positiven Einflüsse sind Gesundmacher oder Gesundheitsbewahrer, sehr faszinierend. Wer sich krank, erschöpft oder mitgenommen fühlt, findet in einem Friedhof wie unserem (und auch in zahlreichen anderen Friedhöfen) höchst wahrscheinlich einen Verbündeten. „Fried“ drückt also nicht nur den Frieden für Gestorbene und ihre Angehörigen aus, es greift für alle Lebendigen auch die ständige Möglichkeit des wertvollen gesundheitlichen Friedens auf.

Dass Friedhöfe innovative und heilsame Orte sind, konnten bereits diejenigen Skeptiker persönlich feststellen, die uns zuvor durch bloßes Hörensagen unter Efeu verwachsen, umgeben von geöffneten Sargdeckeln visualisiert hatten. Alles Quatsch. Für gesunde Ehrfurcht gibt es zwar immer einen Grund; dass die Ehrfurcht aber in Furcht oder Angst umschlagen soll, dafür gibt es keinen plausiblen Grund. Zugespitzt leiden auch vereinzelt Menschen an der Angststörung Nekrophobie. Nach unserem Dafürhalten tragen regelmäßige Begegnungen mit Friedhöfen dazu bei, ureigene Ängste zu neutralisieren. Was zu wünschen wäre, denn Ängste im ungesunden Maß blockieren unser Wesen und unsere Bewegungsfreiheit. Wer den Friedhof als Entdeckungs-, Erholungs- und Entspannungsgebiet erkennt, hat auf kurze, mittlere oder lange Sicht eine zusätzliche Freude im Leben.

Ein künstlerisches oder generell schöpferisches Sein findet auf Friedhöfen großzügig Platz. Alles ist Inspiration. Buckminster NEUE ZEIT lebt glücklich mit eigenem Beet und Garten vor der Türe, beides lässt sich mit Liebe, Mühe und relativem Aufwand pflegen. Ein Bepflanzungskonzept existiert nicht; aus dem Boden sprießen Wildwuchs und allerhand Überraschungseier. Kombiniert mit Bäumen, Pflanzen und Blumenzwiebeln, die (achtlos weggeworfen) aus Friedhofskörben gerettet wurden. Darin liegt auch der befriedigende kreative Reiz, nämlich zu finden, zu erkennen und weiter zu verwerten. Auch Friedhofsbesucher oder Passanten können jederzeit Friedhofskörbe auf Wiederverwertbares überprüfen und mitnehmen, was ihnen gefällt. So kommt es dann, dass selbst eine kleine Blumenzwiebel schon viel inneres Glück produzieren kann. Offene und aufmerksame Geister werden meist immer fündig.

Ehrenamt

Buckminster NEUE ZEIT geht im nächsten Artikel (Part II) auf konkrete Möglichkeiten der Unterstützung, der Hilfe und des Ehrenamts bei uns ein. Für die Bewirtschaftung, Pflege und die kreative Ausgestaltung unseres Areals rund um das Haus, ebenso im Innenbereich und auf dem Dach mit der großen offenen Terrasse, freuen wir uns auf Menschen, die Lust und Tatendrang verspüren und sich mit uns und dem Friedhof verbinden wollen. Insbesondere für Großstädter, die eventuell mit Gartenarbeit bisher wenig oder gar nicht in Berührung kamen, kann das Beackern unserer Beete eine zufriedenstellende Betätigung mit meditativem Charakter darstellen. Etwas mit eigener Hand gemacht oder geschaffen, und dabei die Nähe zur Natur zugelassen zu haben, wird als sehr beglückend empfunden. Automatisch werden dabei die Sinne für die Natur und für zahlreiche Details geschärft. Unsere Hochsensibilität lässt Gäste die Welt durch unsere Augen erleben, gleichzeitig lernen wir auch von ihnen Neues.

Zu unseren Engagements gehören u.a. Müllsammeln, Wiederverwertung und Upcycling, Beet- und Gartenarbeit, Wildkrautkontrolle, Bestandspflege und Reinigungsarbeiten, Bewässerung der Natur, Handwerks- und Kreativtätigkeiten.

Im Vorfeld Interessierte können uns bereits jetzt eine E-Mail an Office@Buckminster.de schreiben. Ein Anruf oder ein Besuch an unserer Haustüre tun es selbstverständlich auch. Wir melden uns zeitnah zurück und stimmen die Möglichkeiten freiwilliger Engagements persönlich mit allen Interessenten ab.

Bis dahin,
mit freundlichen und facettenreichen Grüßen
von einem der ältesten Friedhöfe Berlins

© Buckminster NEUE ZEIT, Fotografie MC.N | Mika C. Nixdorf, Historische Fotos: Privatarchiv; Song Mr. Big acoustic version by radityamhndr (Fingerstyle Guitarist); Einzelbildnachweis: Săpânţa © FRASHO / franks-travelbox, Leichenwagen Harold-Maude Petrolicious; Redaktion zuletzt aktualisiert am 27.05.2021, 17:30 Uhr