Mister Rupert

Eine Geschichte über Missverständnisse in der Kommunikation und die Frage, ob die Gegenwart eines wohlhabenden, privilegierten Menschen Anlass dafür geben sollte, eine soziale Maske aufzusetzen, um nicht mehr man selbst zu sein. Grundsätzlich ist es nie ratsam, die Echtheit der eigenen Persönlichkeit von Situationen oder Menschen abhängig zu machen. Ein überdrehtes Selbstbewusstsein zum Beispiel ist durchschaubar und lässt die Person meist hilflos, wenig seriös oder zumindest unsympathisch wirken. Es ist das Gegenteil von natürlicher Autorität – einer im Wesen angelegten Mischung aus Empathie und Härte. In Geschäfts- und Arbeitsbeziehungen ist sie Gold wert. Für zahlreiche Menschen hingegen, die professionelle Dienstleistungen anbieten und ausführen, wohnt die Mutter allen Erfolgs in der Devotheit. Kunden werden zu Königen, und zwar permanent. Falsch ist diese Philosophie natürlich nicht, was in der Regel durch Zahlen messbar wird. Aber sind Zahlen wirklich alles? Ich denke nicht. Die devote Königkunde-Perspektive birgt zwei entscheidende Nachteile. Zum einen kann eine partnerschaftlich geprägte Zusammenarbeit auf Augenhöhe schon deshalb nicht stattfinden, da der König physikalischen Gesetzmäßigkeiten zufolge stets nur diagonal nach unten blickt und Befehle weitergibt. Zum anderen geht etwas sehr Wichtiges verloren: Dialog.

Es war ein warmer Junitag in Berlin – klarer Himmel, frühsommerlich und lau am Abend. Schonmal ein gutes Omen. Erst vor wenigen Wochen rief Guido bei mir an und sagte, er brauche die Wallstraße für Kunden zum Dinner. Guido war damals Unit-Leiter bei Kofler. „Catering, Möbel, Set Up und Personal über dich. Location, Technik, Brand- und Nachtwachen über uns.“ Später kam über Kofler der komplette Fahrservice und ein Notwagen mit einem Defibrillator an Bord hinzu. Wer kommt denn da? Ein Staatsoberhaupt?

Peruanische Küche, 140 internationale Gäste und ein Kronleuchter, der uns den Tag versüßte

Die Vorbereitung verlief trotz der Kürze ruckelfrei, nur die Eigentümer des Gebäudes wollten nicht, dass Teile des Nebengebäudes für die Küche genutzt werden. Und wenn, dann kostet es extra. Da beides (Unnutzbarkeit oder Nutzung nur gegen Mietzuschlag) keine Option darstellte, musste geflunkert werden. Dass die 84 nicht nutzbar sein soll, ging links rein und rechts wieder raus. „Ja, ja, nein, nein – alles im Zelt“. Für die Eigentümer schien der logistische Cateringaufwand nicht immer nachvollziehbar, deswegen waren alle am besten beraten, wenn im Vorfeld keine schlafenden Hunde geweckt wurden. Zwar durfte das Nebengebäude für Cases und den Cateringrücklauf dienen, die Küche sollte aber im Hof stehen. Da es jedoch nur diese eine praxistaugliche und sichere Lösung gab, wurde das Nebengebäude für Küchenzwecke am schriftlichen Nutzungsvertrag vorbei und mündlich zu Guidos Händen bzw. in dessen Gehörgänge geschifft. Anders konnten wir es nicht machen. Das kulinarische Konzept für den Abend basierte auf Koflers Pret A Diner.

„Pret A Diner is well known to Berlin. It started with an idea – one which envisioned a dining experience that included great food, a setting, music and people, not bound by a building or borders. The ethos was to journey across the globe embracing new traditions, believing that there is no creation without tradition, yet no tradition without creation, and with an innovative experience at the heart of the mission. Unfortunately, tonight will be one of the last events held here as work on the planned apartment development will start this year.“ Global Management Conference Welcome Dinner, Wallstrasse 85, Compagnie Financière Richemont SA

Tim Felix organisierte eine größere Halteverbotszone direkt vor dem Gebäude. Denn spätestens wenn in der Wallstraße für Veranstaltungszwecke wieder Generatoren Richtung Himmel aufstiegen und einen sicheren Stellplatz benötigten, musste diese Zone leer und von Fahrzeugen befreit sein. Was Wohn- und Geschäftsansässige in der Wallstraße davon hielten, wurde am frühen Morgen des Veranstaltungstages deutlich.

„Alle abschleppen lassen!“

„Wo? Ja, Knallstraße“

Die Berliner Polizei reagierte zügig und schickte einen Dienstleister, der im Akkord abschleppte. Unter den Umgesetzten war auch ein Fahrzeug mit dänischem Kennzeichen, über das im Nachhinein eine kurze schriftliche Diskussion mit der Bußgeldstelle der Polizei stattfand: „Seit über sechs Jahren ist es innerhalb der EU möglich, Bußgelder, die mindestens 70,00 € betragen, auch über die Landesgrenzen hinaus einzuziehen. Das Umsetzen eines ausländischen PKW wird somit ebenfalls seit über sechs Jahren nicht mehr dem inländischen Auftraggeber/Nutznießer angelastet.“

Das Gros der Einrichtung stand recht bald. Dinnertische, Bestuhlung, Lounge Möbel im Innenhof, Bar, technische Installationen, eine Staffelei für das Seating. Für die Ausstattung der Unisextoiletten waren Tim Felix und ich zuständig, da uns das Erscheinungsbild dieses Bereichs besonders am Herzen lag. Frische Blumen, Kerzen und eine halbe Drogerie errichteten wir.

Über einen Gegenstand philosophierten Tim Felix und ich im Vorfeld der Veranstaltung noch genau. Es ging um einen größeren kupferfarbenen Mülleimer für den Sanitärbereich, den wollten wir unbedingt finden (aber vor dem Kauf persönlich begutachten).

„Wir werden im frühen Stadium keinen solchen Mülleimer finden“

„Wenn überhaupt nur last minute und mit der heißen Nadel gestrickt“

„Der Intuition folgen“

Wenige Stunden vor Veranstaltungsbeginn kam die Eingebung für den kupferfarbenen Mülleimer, für den ich mich auf den Weg machte. Und tatsächlich fand ich ein einzelnes Exemplar wie für uns hingestellt. Ein neues gutes Omen.

Blieb noch der Kronleuchter von Kofler, der uns den Tag versüßte. Angekündigt wurde ein Modell, von dem erwartet werden durfte, dass es zumindest ein bisschen zu den Raumdimensionen der Eisenwarenhalle passte.

„Oh Gott“

„Die denken wir sind bekloppt“

„Herrlich“

„Ich finde ihn süß“

„Sieht doch schön aus die Küche“

„Und unser Mülleimer erst“

„Was machen wir, wenn Bert heute Abend doch spontan kommt und die 84 sieht?“

„Unterhaken, links abbiegen und zur Bar bringen, Hochprozentiges anbieten“

Stand by für alle Gewerke war 19.00 Uhr. Es fiel eine Dame auf, die zu Richemont gehörte und die Endabnahme machte. Gaye Wolfson, Director – Richemont Group Events, seit 2001 für das Unternehmen im Dienst. Zwei pinkfarbene Streifen Gaffa mussten noch geklebt werden, dann war alles save. Dreißig Minuten später erwartete der Ablaufplan die Gäste. Einige sollten um 20.00 Uhr mit dem Boot ankommen. Zeit für Guido und sein Team. Wir zogen uns dezent in den Hintergrund zurück und kamen auch vorerst nicht mit den Kunden in Berührung. Dafür aber mit dem interessanten Leiter vom Fahrdienst, der kurz ins Fettnäpfchen trat, denn er hatte mich zweimal falsch verortet.

Wir hatten das Gefühl, draußen war es spannender als drinnen. Alles lief nach Plan, aber geraucht, gelacht und wirklich geredet wurde unter freiem Himmel.

Von Kofler wurde uns an diesem Abend kein einziges Getränk gebracht. Erst auf Nachfrage erbarmte sich jemand aus dem Serviceteam. Generell herrschte ein reges Hin und Her, Speisen rein in den Saal, leeres Geschirr zurück. Wie Ping Pong. Guido war auf Zack, machte zwischendurch kurze Gesprächspausen für bzw. mit seiner Kundin, was aber oberflächlich wirkte. „Wie ein Truthahn rennt der rum, da müssen wir noch seine Kunden betreuen. Wehe du wirst so.“

„Although he has been in the limelight for his strong political views and connections, Rupert is a very private person.“

Etwas später am Abend lernte Tim Felix Gaye kennen und klärte sie ein wenig über unsere Rolle bei der Veranstaltung auf. Gäste stellten Fragen über die Geschichte des Gebäudes, die wir über den Abend verteilt so gut es ging beantworteten. Mein häufigster Weg war draußen vom Eingang zum Generator und wieder zurück. Wie bei einem Patienten, der engmaschig überprüft werden musste. Auf einem dieser Wege bemerkte ich am Eingang diesen Mann, der etwas suchte. Meine Vermutung war, dass es ein Feuerzeug war, da er offensichtlich Genussraucher war. Da wir Feuerzeuge oder Streichhölzer immer bei uns trugen, sprach ich ihn aus ein paar Metern Entfernung an und fragte, ob er Hilfe benötigte. Er schüttelte kurz angebunden den Kopf und ging wieder ins Gebäude. „Na toll, man ist der freundlich. Das ist bestimmt dieser Mister Rupert“. Ganz strange!

Und es wurde noch stranger, denn keine zehn Wimpernschläge später steht Tim Felix auf der Matte und erzählt mir, dass er gerade mit Gaye gesprochen hat. Mr. Rupert sei von einer Prostituierten angesprochen worden. Gaye und Tim Felix versuchten die Angelegenheit so diskret wie möglich zu erforschen. Ich musste überlegen. In der Ecke von Berlin gibt es doch keine Prostituierten!? Wann soll das gewesen sein? Rückblickend weiß ich, dass Johann Rupert eine streitbare, kritische Persönlichkeit ist, der kein Interesse daran hat, dass über ihn kompromittierendes Material entstehen könnte. Vielleicht fühlte er sich in eine Falle gelockt. Denn nach kurzer Überlegung fiel es mir wie Schuppen von den Augen. „Du, ich glaube der meint mich. Ich hab‘ den vorhin gefragt, ob er Hilfe braucht.“ Und dazu meine Kleidung […] Tim Felix‘ Augen werden größer und die Augenbrauen zieht er hoch. Innerlich lachen wir aber schon. „Klärst du Gaye bitte auf“, „Ja, mache ich“. Gaye wird Johann daraufhin erklären, dass wir zu der Location gehören.

Mit etwas Abstand zu der Gruppe, der Gaye angehörte, standen wir draußen und beobachten das Geschehen. Mr. Rupert kam auch raus und schloss sich der Gruppe an.

„Und was jetzt?“

„Wollen wir einfach hingehen und uns offiziell vorstellen?“

„Hallo zu ihm sagen?“

„Ja“

„Und wie!“

Also los – der Verstand sagt nein (könnte schiefgehen), aber das Herz sagt ja (hoffentlich hat er Humor)

kurzer Gang, Hand hinhalten:

„Hi, I’m your prostitute!“

Der Abend nahm eine Wendung, die wir uns so nie vorgestellt hatten. Johann Rupert war plötzlich locker, entspannt und der coolste Typ. Unsere Gespräche in der Gruppe liefen in total verschiedene Richtungen. Mal ging es um den Mond, das Universum, Galaxien. Im nächsten Moment um Politik, Verfolgung, Freiheit. Psychologie, Bücher, persönliches Wachstum. Dann rückten wir alle näher an die Autos heran, die zur Abfahrt bereit standen. Jens, der Leiter vom Fahrdienst, stieg noch kurz in unsere Runde ein. „Weißt du noch, was du zu Beginn gesagt hast? Das ist doch nicht normal hier!“

Unsere Miniparty ging weiter.

Dieser Abend war berauschend, beglückend und etwas für die Ewigkeit.

„Hallo C., hallo Tim Felix,
hier ist der fettnapfaffine Fahrservice-Typ von der Richemont Veranstaltung letzten Sonntag in der Wallstraße 85. Danke an dieser Stelle, dass wir uns nach dem eher mäßigen Start des Abends (ehhh, bist du von der Security oder Tänzerin?!) dann doch nochmal neu kennenlernen durften. Es ehrt mich sehr, dass euch meine Art zu arbeiten gefallen hat, und ich würde mich freuen, auch mal für euch tätig zu werden. Jens“

„The quite strange events of last night led to us chatting in a more real way than we may ever have expected we would while working and having never met before – I’m glad that was the case! Also, thank you for guiding us through our evening in your beautiful special place and for your own calm direct approach to all that we experienced. Gaye“

Adventures Of

The Wall

Wallstraße 84/85: Ein ikonografisches Ensemble aus dem Jahr 1870. Straßenseitig entsteht das Bild zweier getrennter Häuser, wasserseitig bilden beide Hausseiten eine Einheit. Geprägt von der Unternehmerfamilie Lademann, die in dem Gebäude lebte und im Erdgeschoss ihre Eisenwarenhandlung betrieb, gehört das 150 Jahre alte Haus zu den beeindruckendsten und unnachahmlichsten Bauwerken Berlins. Die Architektur ruhte Jahrzehnte – sie wurde vor ihrer Restauration 2017 mehrere Jahre im Kunst- und Veranstaltungskontext genutzt. In den barocken Festsaal zu gehen oder einfach nur in ihm zu stehen und seine Aura aufzunehmen, war jedes Mal ein tief bewegendes, fast surreales Erlebnis. Die bescheidene Infrastruktur für Events auszugleichen (Wärme und Strom), glich Abenteuern, über die letztlich niemand ärgerlich war, weil das Gesamtereignis überwog. Nach 2017 lief die Wiederherstellung des Gebäudes in vollen Zügen an, aus den oberen Etagen wurden hochwertige Residenzen und Apartments. Der Saal im Erdgeschoss ist geblieben, der Übergang ins moderne Hier und Jetzt behutsam vollzogen und geschafft. Die Instandsetzungsarbeiten sind abgeschlossen, das Gebäude ist im Jahr 2022 vollständig modernisiert.

© Buckminster NEUE ZEIT, Fotos Wallstrasse 2014-2017 (Header)