Abseits

Wer Gülpe und Görne das erste Mal hört, sucht in seinen Gedanken vermutlich nach Definitionen und Zuordnungen. Weder sind es seltene Wurmarten, Flüsse oder Medikamente. Es sind Diamanten. Geographische Edelsteine. Zirka 70 Kilometer westlich von Berlin. Schon vor Corona kommt es zu ersten zaghaften Begegnungen mit der Region. Im ersten Lockdown prägt ein besonderes Erlebnis das Band dorthin. Das Dörfliche zieht mich mehr in den Bann als das Städtische es je könnte. Ich glaube, darum geht es im Großen und Ganzen. Die Frage, wie ich leben möchte. Nicht wo, nur wie. Eine Antwort steht noch aus. Was durchschimmert, ist die Erinnerung an den Beginn der Corona Pandemie: Besprechung der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder vom 22.03.2020. Die Bundeskanzlerin und die Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder fassen am 22. März 2020 folgenden Beschluss:

„Die rasante Verbreitung des Coronavirus (SARS-CoV-2) in den vergangenen Tagen in Deutschland ist besorgniserregend. Wir müssen alles dafür tun, um einen unkontrollierten Anstieg der Fallzahlen zu verhindern und unser Gesundheitssystem leistungsfähig zu halten. Dafür ist die Reduzierung von Kontakten entscheidend. Bund und Länder verständigen sich auf eine Erweiterung der am 12. März beschlossenen Leitlinien zur Beschränkung sozialer Kontakte:

I. Die Bürgerinnen und Bürger werden angehalten, die Kontakte zu anderen Menschen außerhalb der Angehörigen des eigenen Hausstands auf ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren.

II. In der Öffentlichkeit ist, wo immer möglich, zu anderen als den unter I. genannten Personen ein Mindestabstand von mindestens 1,5 m einzuhalten.

III. Der Aufenthalt im öffentlichen Raum ist nur alleine, mit einer weiteren nicht im Haushalt lebenden Person oder im Kreis der Angehörigen des eigenen Hausstands gestattet.

[…]

Die Bundeskanzlerin und die Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder danken insbesondere den Beschäftigten im Gesundheitssystem, im öffentlichen Dienst und in den Branchen, die das tägliche Leben aufrecht erhalten sowie allen Bürgerinnen und Bürgern für ihr Verantwortungsbewusstsein und ihre Bereitschaft, sich an diese Regeln zu halten, um die Verbreitung des Coronavirus weiter zu verlangsamen.

Sonntag, 22. März 2020“

Es war der erste Lockdown, Sonntag 22. März 2020, ein Abenteuer:

Der junge Mann oben im Bannerbild heißt Holger. Ende 2019 haben wir uns kennengelernt. So ziemlich am lustigsten ist, wenn er eifrig erzählt und dabei das Wort „manierlich“ verwendet. 2020 kam Corona, im Büro auf dem Friedhof haben wir erste Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Das Händewaschen war A und O. Nachrichten und Live Map immer verfügbar. Zwischendurch produktiv sein. Es hat Spaß gemacht, an unseren Rechnern zu sitzen, zu philosophieren und uns mit Sprache die Bälle zuzuwerfen. „Der Text klingt scheiße, da sitzt überhaupt nichts.“ Auch schweigen ist angenehm mit Holger, was zwischenmenschlich total wichtig ist. „Die Regierung hat den Lockdown beschlossen!“ Der Anlass ist zwar traurig, denn viele Menschen hat Corona das Leben gekostet, aber dass eine moderne Generation so etwas Drastisches (mit)erlebt, ist beachtlich. Und weil Rumsitzen nicht unser Ding ist, beschlossen wir am Sonntag, 22. März 2020 einen Ausflug in den beschaulichen Ort Gülpe zu unternehmen. Wenigstens kurz die Atmosphäre menschenleerer Straßen in einer Großstadt wie Berlin fühlen; danach wird es schon ländlich. Wir fahren über Bartschendorf und besichtigen die tolle Kirche ohne Dach. Holger hatte sie im Internet entdeckt:

„Das Kirchenschiff ist seit 1981 Ruine. In der Wetterfahne steht die Jahreszahl 1802. Die kleine Glocke wurde 1827 von Ernst Ludwig Wilhelm Thiele aus Berlin gegossen. Der quadratische Westturm von 2006 – 2008 instandgesetzt, das Mauerwerk des Schiffes gesichert. Die Orgel kam 1981 nach Kyritz, wo sie im Gemeindehaus ihren Dienst tat, bis sie 1998 durch einen Brand zerstört wurde. Da die Kirche seit Jahrzehnten nicht mehr als Gotteshaus genutzt wurde, wurde sie 2021 entweiht und verkauft. Alle Bemühungen der vergangenen Jahre, die Kirche doch wieder ihrer Bestimmung zuzuführen waren gescheitert.“

In Gülpe leben weniger als 200 Menschen. In den Abendstunden und in der Nacht ist es, wie in vielen anderen Teilen der Region, stockduster. Ein Übereinkommen aller Gemeinden zum Wohle des Nachthimmels, der im Westhavelland sein ganzes Potential entfalten kann. Aufgrund der äußerst geringen Lichtverschmutzung ist es dort so dunkel, dass gefühlt 1 Million Sterne und sogar die Milchstraße mit bloßem Auge sichtbar sind. Ein El Dorado für Hobbyastronomen und professionelle Sternenforscher, die sich und ihr Equipment manchmal tagelang auf dem Sportplatz in Gülpe unterbringen. Jährlich finden Astrotreffen auf dem Gülper Sportplatz statt. Am Abend setzt organisiertes Gewusel ein, weil fast alle Angereisten ihre Teleskope aufbauen und zum Himmel ausrichten.

2014 wurde das über 1.000 Quadratkilometer große Gebiet westlich von Berlin von der International Dark-Sky Association zum ersten deutschen Sternenschutzpark ernannt. Eine Art Gütesiegel und Auszeichnung für das Agreement der Region und aller ihr zugehörigen Gemeinden, so wenig wie möglich Licht abzusondern und dadurch den spektakulären Sternenhimmel in seiner Reinheit und Schönheit zu schützen.

Es herrscht eine herrliche Ruhe in Gülpe. Wer es auf die Spitze treiben möchte, wirft sich ins Gras und macht gar nichts mehr, außer nach oben gucken und staunen. Unsere Reise nach Gülpe hatte nur einen Haken: Wir haben gar keine Verpflegung mitgenommen und vor Ort gab es nichts zu kaufen, eine einzelne Tankstelle hatte sogar geschlossen, weil kaum Leute vorbeikamen. Restaurants? Geschlossen. „Wir verhungern und verdursten ja“ stellen wir mit etwas Ironie fest. Im Lockdown ist einkaufen nicht selbstverständlich. Im Auto auf dem Weg nach Gülpe beratschlagen wir, womit wir improvisieren und die Situation lösen können. Ohne gestärkt zu sein, lässt es sich im Winter nachts im Freien nicht gut aushalten. Und während es in Holgers Kopf arbeitet, ist die Lösung bei mir schnell parat: „Wir klingeln in Gülpe einfach an Häusern und fragen, ob wir Essen und Trinken abkaufen können. Da wird doch jemand Brot, Käse und etwas Saft oder Cola haben.“ Holger muss laut lachen und wird gleich rot vor Entsetzen und Scham, ob der Vorstellung, unvermittelt bei Fremden klingeln zu gehen und nach Nahrung zu fragen. „Ach du liebe Zeit, ist das dein Ernst? Nee, ich kann das nicht, da kommt man sich ja vor wie ein Vagabund.“ „Doch, wir machen das. Wirst sehen, das klappt. Ich gehe überall klingeln, wenn es sein muss.“ Holger kommt für den restlichen Fahrweg aus dem „Vorschämen“ nicht mehr raus, er hat aber auch keine andere Wahl, denn die Löwin neben ihm hat längst verfügt, wer zum ersten Haus gehen und fragen wird. Da Holger Unternehmer werden möchte, wird es ein gutes Training sein, Ängste abzulegen und (innere) Blockaden zu überwinden. Wie ich merkte, hat Holgers Persönlichkeit weitere Entwicklung dringend nötig. Der Mensch soll sein Leben nämlich nicht in Angst, Zweifel und Unterlassen verbringen. Was wäre das für ein Leben?

In Gülpe angekommen parkt Holger den Wagen vor einer ziemlich geschlossen aussehenden Gaststube. Ist da jemand, lebt da jemand in dem Haus? Hat jemand vielleicht Reste im Kühlschrank? Das wollte Holger zunächst erforschen, wenn auch zögerlich. Ich bleibe am Auto, warte und wundere mich, dass Holger gar nicht mehr zurückkommt. Minuten später ist er freudestrahlend wieder da und (!) über sich hinausgewachsen, denn er erzählte mir aufgeregt, dass er gerade eine Frau kennengelernt hat, die uns zum Essen einladen möchte. Wie bitte!? Ist ja unglaublich! So ein Glück und so ein Quantensprung in kürzester Zeit. Hinter dem Haus mit der Gaststätte liegt nämlich noch ein Haus, mit einem Vorgarten, der etwas Künstlerisches ausstrahlt. Dort hat Holger einfach geklingelt und Esther am Gartenzaun kennengelernt. „Ja, wir sollen kommen, sie macht uns was Schönes zum essen.“ Ich kann es gar nicht glauben, „du verarschst mich doch!“

Wenig später sitzen wir bei Esther im Haus und werden bekocht. Oh Gott, oh Gott. Das ist (wiederum) mir so unangenehm, dass ich rot geworden am liebsten vom Stuhl runter unter den Tisch rutschen möchte. „Bloß nicht so viel Aufwand […]“ Getränke und Kinderriegel hatte Esther auch noch parat. „Wir sind im Paradies gelandet, dank dir, dank Esther.“ Ein inspirierender, geistreicher Austausch zu dritt für gute 90 Minuten. Wir sind Esther so dankbar, diese Gastfreundschaft wird ewig in meiner Erinnerung bleiben. Und so kommt es, dass ich regelmäßig nach Gülpe fahre und immer wieder neue interessante Menschen kennenlerne. Ungeplant, spontan aus der Situation heraus.

Über die Region, deren Potential Vielen noch gar nicht bekannt oder bewusst ist, habe ich einen Artikel geschrieben, den ich heute veröffentliche.

Seuraavaan kertaan.

Leseempfehlung: Desktop! Für mobile Ansichten wurde noch nichts optimiert, wir arbeiten daran.

Zum Reiseartikel „Westhavelland“

Theodor Storm (1817-1888)
Abseits
Es ist so still; die Heide liegt
Im warmen Mittagssonnenstrahle,
Ein rosenroter Schimmer fliegt
Um ihre alten Gräbermale;
Die Kräuter blühn; der Heideduft
Steigt in die blaue Sommerluft.
Laufkäfer hasten durchs Gesträuch
In ihren goldnen Panzerröckchen,
Die Bienen hängen Zweig um Zweig
Sich an der Edelheide Glöckchen;
Die Vögel schwirren aus dem Kraut –
Die Luft ist voller Lerchenlaut.
Ein halbverfallen niedrig Haus
Steht einsam hier und sonnbeschienen;
Der Kätner lehnt zur Tür hinaus,
Behaglich blinzelnd nach den Bienen;
Sein Junge auf dem Stein davor
Schnitzt Pfeifen sich aus Kälberrohr.
Kaum zittert durch die Mittagsruh
Ein Schlag der Dorfuhr, der entfernten;
Dem Alten fällt die Wimper zu,
Er träumt von seinen Honigernten.
– Kein Klang der aufgeregten Zeit
Drang noch in diese Einsamkeit.
© Buckminster NEUE ZEIT, Alle Rechte vorbehalten.
Konversation in einer Postbank Filiale in Berlin:
Ich stehe am Schalter und merke, dass jemand hinter mir sein muss, außerhalb der Reihe. In der Reihe warten ca. 12 Personen. „Diskretion“ ist das einzige freundliche Wort, mit dem der Mann (ich drehe mich um) hinter mir von der Postbankangestellten angesprochen und begrüßt wird. Ihr Arbeitskollege ruft nicht weniger freundlich „da hinten ist die Reihe“. Der Mann ist Kurier, wie er zu erkennen gibt, und steht wegen seines Arbeitspensums unter Druck, möchte nur rasch ein Paket abgeben. Die geschätzte Wartezeit von 15-20 Minuten ist ihm nicht zuzumuten. Das versteht nur niemand. Oder es will niemand verstehen, weil nicht „deutsch“ auf seiner Stirn steht. Die beiden Postbankangestellten lassen ihn auflaufen, reden unfreundlich an mir vorbei und die weibliche Postbankangestellte fragt später allen Ernstes in Richtung der 12 aufgereihten Personen: „Oder möchte ihn jemand vorlassen?“. Einer aus der Reihe antwortet laut rufend „NEIN!“. Mein Herz schlägt schneller und alle Fässer, die überlaufen konnten, stehen unter Wasser. Zur Reihe drehend „Sie halten alle den Mund!“, zurück zur Angestellten „Und Sie bedienen jetzt!“. „Noch stehe ich hier am Schalter und der Mann kommt vor!“ (Angestellte bedient den Mann, Paket erfolgreich abgegeben) Zum Kurier: „Kommen Sie, wir gehen, nur Bekloppte hier.“ Nebeneinander mit einem dezenten Lächeln im Gesicht und alles um uns herum vergessen verlassen wir die Filiale und wünschen uns alles Gute.